Es war am Morgen nach den ersten Angriffen auf Afghanistan. Ich glaube, alle Menschen in meinem U-Bahn-Waggon hatten die grünen Flimmerbilder aus dem Fernsehen in ihren Köpfen und ließen nun sie und sich und ihre Ängste und Aktentaschen nach Berlin-Mitte transportieren. Dann stiegen acht Schüler ein. Sie trugen ein Plakat, auf dem »Krieg = Unrecht« stand.
Ich war geschockt. Zunächst wegen dieser einfachen Wahrheit, die mir etwas zu einfach erschien. Aber dann war ich geschockt, dass ich geschockt war. Krieg = Unrecht? Das hatte ich vor wenigen Jahren noch selbst gedacht, ohne Fragezeichen, immer. Wer an diese einfachen Wahrheiten nicht glauben mochte, war in meinen Augen schon vom Leben korrumpiert. Wer von Abwägung sprach, verriet Gleichgültigkeit. An diesem Morgen aber beleidigte mich das Plakat. Es machte mir nach einer Nacht des Ahnens endgültig klar, dass dies der erste große Krieg in meinem Leben ist, für den ich zumindest so viele Argumente finde, dass ich nicht mehr ehrlich sagen kann: Ich bin dagegen.
Am Bahnhof Alexanderplatz stiegen wir aus, die Schüler - 16, 17 Jahre alt - und ich, 29. Sie gingen demonstrieren, ich ging arbeiten.
Der Krieg dauert nun schon einige Tage. Wir sehen die grünen Flimmerbilder und erfahren nicht, wie viele Menschen in diesem Flimmern sterben. Auch weiß ich nicht, ob ich den Amerikanern und ihren Pressekonferenzen glauben kann, aber ich weiß, dass ich ihnen einen gewissen Vertrauensvorschuss gegeben habe. Ich habe Angst, dass er kurz nach Redaktionsschluss verbraucht sein könnte, aber noch ist er da. Damit stehe ich gegen das Internationale Kinderhilfswerk, gegen die deutsche Friedensbewegung, gegen die Nordelbische Kirche, gegen den Friedenspreisträger Friedrich Schorlemmer und gegen den Nobelpreisträger Günter Grass. Kein gutes Gefühl. Außerdem stehe ich gegen Hans-Christian Ströbele von den Grünen.
Gegen Ströbele? Na, dann geht's ja. Dann macht es fast schon wieder Spaß. Ströbele, fester Bestandteil deutscher Talkshows wie sonst nur die Sessel dort und die Wassergläser. Er vertritt in den Talkrunden all jene, die immer ganz genau wissen, was gut und was schlecht ist. Wobei die Ströbeles immer alles schlecht finden - was impliziert, dass sie immer gut sind. Ihre Sätze, ihre Gesten, ihre Zeigefinger rufen uns zu: »Wir haben die Moral exklusiv!«
Zum Kotzen.
Das war jetzt ein kleiner Ausbruch, wohl deshalb, weil meine Gefühle in diesem Krieg mit einer späten Auflehnung gegen die Ströbeles in unserer Gesellschaft einhergehen, wobei ich mir anmaße, mit der Mehrheit meiner Altersgruppe übereinzustimmen. Die, die ich kenne, sagen: Eigentlich verabscheuen wir Krieg. Selbstverständlich müssen wir alles dafür tun, dass sich Israelis und Palästinenser einigen, dass die Welt eine gerechtere wird. Auch wissen wir um die Gefahr, dass im Krieg neuer Hass und neuer Terrorismus wachsen können. Aber was ist, wenn man jene Terroristen, die schon da sind, nicht wegdiplomatisieren kann? Man muss ihrer habhaft werden. Und wenn das nur mit einem Krieg geht, dann geht das nur mit einem Krieg.
Ein Liberaler ist ein Konservativer, der noch nie überfallen wurde, sagen die Amerikaner. Meine Freunde und ich haben das Gefühl, dass auch wir am 11. September überfallen wurden, deshalb sagen wir das jetzt so: »... dann geht das nur mit einem Krieg.« Ein Halbsatz bloß, aber damit werfe ich 29 Jahre meines Lebens weg, zumindest die Überzeugungen, die ich mir angeeignet habe. Oder die mir zugeeignet wurden von der Generation der eifrigen Ströbeles, die ich vor mir sehe, während ich im Nacken schon wieder eine jüngere spüre, zumindest in diesen Wochen. Wahrscheinlich beruhigen sich die Schüler bald wieder. So wie meine Klassenkameraden und ich, als der Golfkrieg vor zehn Jahren zum Alltag wurde.
Noch aber protestieren sie. Derweil häuten wir uns. Wir, die Sandwichgeneration zwischen den alten und den jungen Gutmenschen. Wir legen die 68er-Haut ab, die uns übergestülpt wurde in den achtziger Jahren.
Die Achtziger. Das waren unsere Pubertätsjahre, da hätten wir Widerspruch lernen können. Aber es gab schon andere, die für uns widersprachen. Ausgerechnet unsere Lehrer. Die wir duzen sollten. Die gegen Atomkraft waren und gegen Atombomben, manche sogar gegen schlechte Noten, weshalb ihre Skala bei »sehr gut« begann und bei »ausreichend« endete. Gegen die sollten wir rebellieren? Wir haben mit ihnen rebelliert, vielleicht auch nur hinterherrebelliert. Bevor wir, die Schüler, sagen konnten »Los, wir demonstrieren!«, hatten sie schon gefordert: »Ihr müsst jetzt aber mal was machen!« So wurde ich zum Nato-Doppelbeschluss 1982 auf dem Gymnasium begrüßt und 1991 beim Golfkrieg entlassen.
Uns blieb nichts anderes übrig, als einen übernommenen Kampf zu kämpfen. Ich habe das voller Überzeugung getan, habe flammende Verweigerungsschreiben für meine Schulfreunde verfasst und natürlich auch selber Zivildienst geleistet. Fast wäre ich noch in die Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend eingetreten. Auf all das bin ich stolz, nur nicht auf die Sache mit der Arbeiterjugend, weil ich heute denke: Fast hätte ich sie vor Eifer noch überholt, meine Lehrer.
Dabei konnte ihr Kampf gar nicht unserer sein, dazu waren wir zu jung. Es war doch so: Ein Teil der 68er war bei uns in der Schule angekommen und stand vorne an der Tafel, ein anderer endete auf den RAF-Fahndungsplakaten. Die Fotos dort aber zeigten dem Kind, das ich damals war, keine Menschen mit herleitbaren Biografien mehr, sondern nur noch verlotterte Typen mit fettigen Haaren. So fremd war uns diese Denke in Wirklichkeit. In den Achtzigern prallte sie dann auch noch auf Helmut Kohl, der einmal und dann immer wieder gewählt wurde. Es tat sich nichts mehr in der Politik, es wurde aneinander vorbeidebattiert.
Irgendwann hat uns das genervt. Wir haben Kohl abgewählt - und uns zugleich andere Lebensentwürfe ausgesucht als unsere Lehrer. Die Neue Mitte, das sind wir. Meine Freunde haben heute Putzfrauen, Kindermädchen, Aktien. Neoaristokratisch wird dieser Lebensstil genannt. Mein Werdegang klingt auch nicht nach freier Liebe und WG und so. Ich habe geheiratet mit 27, bin Vater geworden mit 28 und habe meine Tochter katholisch taufen lassen mit 29. Wenn ich mit 30 mit Hausmusik »im Kreise der Lieben« anfinge, könnte man mich glatt für Friedrich Merz halten.
Obwohl es widersprüchlich klingt: All das passt sehr gut damit zusammen, weiterhin Rot-Grün zu wählen. Joschka Fischer durchleidet ja seit einiger Zeit dieselbe Häutung wie meine Generation, nur 20 Jahre später als wir und unter größeren Schmerzen. Es ist nicht so, dass ich mir schlauer vorkomme, weil ich früher angefangen habe, vielmehr rufe ich mir aus meiner eigenen Vergangenheit zu: »Spießer! Fascho! Du bist noch keine 30 und schon da, wo du mit 50 noch nicht sein solltest!«
In seinem Buch Generation Golf schreibt Florian Illies: »Früher war alles etwas übersichtlicher. Man glaubte an das Gute im Menschen und das Böse im Amerikaner.« Wir aber mussten merken, »dass die Welt zu kompliziert war, als dass man noch für oder gegen irgendetwas sein konnte«. Weil alles so verwirrend ist, hat sich die Generation Golf für den Egoismus entschieden, der lebt sich am einfachsten.
Ich gehöre mittlerweile zur Generation Golf-Kombi. Der Unterschied liegt nicht in dem bisschen mehr Ladefläche. Der Unterschied sitzt auf der Rückbank und ist ein Kind. Ich war davon ausgegangen, dass die Generation Kombi etwas selbstloser sein würde. Bin ich auch, aber in der Art, dass ich jetzt nicht mehr nur egoistisch auf mein Leben schaue, sondern auch auf das meiner Tochter. Ich bin egoistisch für zwei. Ich mag keine Gesamtschulen mehr mit ihrem Chancengleichheitsblabla, ich kenne keine Vorbehalte gegen gymnasiale Eliten, ich will doch, dass meine Tochter dazugehört. Ich habe auch mehr Argumente gegen die Begnadigung von Sexualstraftätern, seit meine Tochter auf der Welt ist und ihnen begegnen könnte.
Seit dem Terror ist es sogar so: Ich sehe den Waffenladen in meiner Straße und bin beruhigt, weil er da ist. Vielleicht werde ich dort bald drei Gasmasken kaufen. Ich glaube übrigens, der Laden ist neu. Ich habe ihn vor dem 11. September nie wahrgenommen. Sonst hätte ich ja ein Plakat drangeklebt, mit der Aufschrift: »Krieg + Waffen = Unrecht«.
Aber was ist dieser Krieg nun? Unrecht? Recht? Ich glaube, er ist beides, dazu steht er für Hilflosigkeit und Angst. Ja, vielleicht hat die Generation Kombi einfach mehr Angst als die Ströbeles. Oder mehr Kinder. Oder Bertrand Russell hat Recht, der Literaturnobelpreisträger. Er hat gesagt: »Wer in der Jugend nicht Kommunist war, hat kein Herz. Wer es im Alter immer noch ist, hat keinen Verstand.« Bislang war dieser Satz Beleg meiner Jugend, ab sofort beweist er meinen Geist. Sehr angenehm. Ich finde, Russell ist zu Recht Nobelpreisträger.
Obwohl er nicht ahnen konnte, dass der 11. September einen zusätzlichen Konservatismus-Schub auslösen würde und so etwas wie ein kleines, spätes Aufbegehren gegen die Moralhoheit unserer Lehrer.
Wobei Aufbegehren schon ein zu großes Wort ist, Revolution erst recht. Auch das ist typisch für meine Generation: Wir lassen uns unsere Revolutionen von Meinungsumfragen bestätigen. Die sagen, dass die Mehrheit ohnehin so denkt wie wir.